Señora Fernandez lächelte wehmütig und legte vorsichtig ihre Hände um meine rechte Hand. „Selena, du bist etwas Besonderes. Es könnte gut sein, dass deine Träume eine große Bedeutung haben. Wenn du sie uns genau schildern oder aufschreiben würdest, könntest du sie mit Hilfe eines Kollegen analysieren und deuten. Zurzeit liegt eine seltsame Aura über der Stadt…“ Sie seufzte. „Wir wissen nicht weiter. Du bist im Moment die einzige Chance unsere Stadt wieder so zurückzubekommen wie sie früher einmal war.“ Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Natürlich wollte ich jederzeit helfen, aber das, was mir die Direktorin erzählt hatte, hörte sich beinahe so an, als wäre ich kurz davor einer Sekte beizutreten. „Also soll ich meine Träume aufschreiben?“, fragte ich Señora Fernandez, die nun aufgestanden war und irgendetwas in den Schubladen ihres Schreibtisches suchte. „Ganz genau“, murmelte sie und kam wieder zurück zu mir. „Und zwar auf die Seiten dieses Notizbuches.“ Sie hielt mir ein schwarzes, kleines Ringbuch hin. Es sah ziemlich antik aus. Die Seiten waren vergilbt und auch der lederne Einband schon etwas beschädigt. Ich nahm es an mich und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig darüber. „Du kannst aber auch jederzeit mir oder meinem Kollegen William McCartney von deinen Träumen erzählen“, erklärte sie mir noch einmal. „In Ordnung“, meinte ich und stand auf. „Einen Moment noch!“, rief die Direktorin aus und der ernste Ausdruck auf ihrem Gesicht machte wieder dem freundlichen Lächeln Platz. „Du hast dich also entschieden?“, hakte sie nach. Hatte ich mich entschieden? Anscheinend schon… Ich hatte doch wohl keine andere Wahl als den Bürgern dieser Stadt zu helfen, oder doch? Wie sollte das überhaupt funktionieren? Wie sollten meine Träume die eigenartige Situation der Stadt verändern? Es hörte sich beinahe so an als würde ich die Entscheidung meines Lebens treffen. Gab es etwa kein Zurück? Verunsichert lehnte ich mich an dem Sessel an, auf dem ich eben noch gesessen war. Die jüngsten Ereignisse hier waren interessanter gewesen als alles, was mir je zuvor passiert war. Shadowport war so irreal für mich. Alles war geheimnisvoll und spannend. Obwohl ich meine Mutter vermisste, wollte ich nicht zurück. Meine Mutter war nach meinem Vater die wichtigste Person in meinem Leben gewesen. Ich hatte keine Freunde gehabt, hatte nur vor mich hin gelebt. Meine Klassenkameraden hatten mich nie wirklich beachtet. Seitdem ich hier war, hatte sich das alles geändert. Ich war nur ein paar Tage hier gewesen und schon so viele Leute kennengelernt. Ich wollte nicht zurück nach Italien. Ich wollte nicht weg von diesem Ort hier. Auf einmal war ich mir ganz sicher, richtete mich auf und sah meiner netten Direktorin pflichtbewusst in die Augen. „Ich werde alles tun, um Ihnen und der gesamten Stadt zu helfen. Ich werde meinen Träumen so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich schenken.“, teilte ich ihr mit. „Ich danke dir von ganzem Herzen, meine liebe Selena!“, jubilierte die kleine Spanierin und drückte mich fest an sich. „Gerne“, brachte ich heraus ehe sie mich losließ. „Und jetzt kannst du dir einen schönen Tag mit dem hübschen Kerl machen, der draußen auf dich wartet!“, freute sie sich und klatschte grinsend ihre Hände zusammen. Ich wurde von ihr aus dem Zimmer geschoben. Die Halskette um den Hals gelegt, das Notizbuch, in das ich Einzelheilten meiner Träume schreiben sollte, und den Umschlag in der Hand. Alessandro lehnte elegant an der Wand, einen Fuß über den anderen geschlagen, und sah nach unten. Als er mich bemerkte, hob er seinen Kopf und fuhr sich durch sein dunkles Haar. Er grinste und stieß sich von der Wand ab, um dann selbstbewusst auf mich zuzukommen. „Da bist du ja endlich.“, raunte er mit seiner tiefen Stimme und legte seine Arme um meinen Hals. Er drückte sich so nah an mich, dass ich mit den Handrücken seine Bauchmuskeln spüren konnte. Am liebsten hätte ich das Buch und den Umschlag fallen gelassen um seine Muskeln genauer inspizieren zu können, doch stattdessen sah ich zu ihm auf. Wie groß war dieser Typ eigentlich? Ein Meter achtundneunzig? Er kam mir auf jeden Fall riesengroß vor. Er lächelte zufrieden und begann mit seiner linken Hand meine Wange zu streicheln. „Kommst du dieses Mal mit, meine Schöne?“, fragte er mich zuckersüß. Was wollte er? Ich war vollkommen benebelt von seiner Anwesenheit, doch, was auch immer er wollte, er sollte es kriegen. Ich nickte abermals. Daraufhin fasste er mir um die Taille und packte mich mit der anderen Hand am Schenkel. Bevor ich wusste, was er mit mir vorhatte, trug er mich auch schon in seinen Armen die Treppenstufen hinunter. Verdutzt starrte ich ihn an. „Bin ich nicht viel zu schwer?“, fragte ich vorsichtig und starrte auf seine filigranen Lippen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er viel farbloser gewirkt. Seinen Augen waren nun tiefblau, seine Lippen lange nicht so farblos und seine Haut auch nicht mehr ganz so grau. „Aber nicht doch!“, säuselte er und drückte mir einen sanften Kuss auf den Mund. „Du bist leicht wie eine Feder!“, rief er amüsiert aus. Auch wenn das wohl nicht ganz der Wahrheit entsprechen konnte, nahm ich seine Behauptung einfach hin. Irgendetwas musste sich außer seinem Aussehen geändert haben. Was war passiert, dass er plötzlich so selbstbewusst und lebensfroh war? „Ist alles in Ordnung bei dir das unten?“, fragte er vorsichtig und grinste mich daraufhin schadenfroh an. „Jaja“, log ich und lächelte. Er war wunderschön. So groß, so blass, seine Augen leuchteten, sein Lächeln strahlte. Er konnte unmöglich von dieser Welt sein. Womit hatte ich verdient, ihn kennen zu dürfen? Was zum Teufel gefiel ihm so sehr an mir? „Irgendetwas ist doch mit dir…“, unterbrach er besorgt meinen Gedankengang. Natürlich war etwas mit mir, aber sagen sollte ich es ihm auf keinen Fall. Ich lächelte ihn an, schob meine Minderwertigkeitskomplexe zur Seite und entschloss mich dazu den Moment zu genießen. Mit großen Augen starrte ich ihn an und flüsterte: „Du bist wunderschön.“ Ich hatte es doch gesagt… Man konnte erkennen, dass er etwas überrascht war. Diese Überraschung legte sich aber nach wenigen Sekunden wieder. „Ich weiß, ich weiß“, scherzte er und zwinkerte mir zu. Wie lange trug er mich eigentlich schon herum? Als hätte er bemerkt, dass ich mir diese Frage gestellt hatte, ließ er mich wieder auf den Boden hinab. Ich taumelte kurz, fing mich aber rechtzeitig, sodass es kaum auffiel, dass ich aus dem Gleichgewicht gekommen war. Verwirrt sah ich mich um. Wo waren wir denn nun? Ich vermisste die grünen Tapeten des Erdgeschosses… Fragend starrte ich Alessandro an und sah mich abermals um. Wir mussten doch im Erdgeschoss sein, da man ebenerdig nach draußen gehen konnte. Ich sah einen kleinen Spatzen am Fenster vorbeihüpfen. Er sah mit seinen Knopfaugen zu mir hinauf durch das Fenster. Wie niedlich diese kleinen Vögelchen doch waren! „Willst du hier warten, oder vielleicht doch mit in mein Zimmer kommen?“, fragte Alessandro mich charmant. Peinlich berührt drehte ich mich zu ihm um: „Ich komme mit.“ Lächelnd ging ich ihm hinterher. Dieser Teil des Internats wirkte viel moderner. Ein roter Sessel stand neben einem hochglanz-weißem Tischchen am Ende der Ganges. „Wo sind wir hier?“, wollte ich verwirrt wissen. U „Im neuen Teil des Schlosses, wie du siehst“, antwortete er schadenfroh grinsend. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Lachend blieb er stehen und schob hinterher: „Sei froh, dass du im alten Teil des Internates ein Zimmer bekommen hast! Bis jetzt bin ich hier nämlich vollkommen allein…“ Sein Blick wirkte traurig. In diesem Moment erinnerte er mich an den Alessandro, den ich kennen gelernt hatte. Irgendetwas konnte doch nicht stimmen mit ihm. War er einsam? Kurz sah er mich mit einem leeren Ausdruck in den Augen an, doch dann fuhr er vorsichtig mit dem Zeigefinger über den samtigen Überzug des Sessels, lächelte wieder und griff in seine rechte Hosentasche. Hatte ich ihm gerade durch einen einzigen Blick Trost gespendet? Ehe ich mir darüber den Kopf zerbrechen konnte, hatte er mit dem Schlüssel, den er in der Hosentasche gehabt hatte, die Tür aufgeschlossen und war schnell hineingegangen. Er legte den Schlüssel auf der Kommode ab, die direkt neben der Tür stand und war aus meinem Blickfeld verschwunden. Geräuschlos betrat auch ich das Zimmer. Das Parkett schien aus Eichenholz zu sein, denn seine Farbe war goldbraun und erinnerte mich an frisch gebackene Brötchen. Verträumt musterte ich meine Schuhe. Sie waren wirklich sehr bequem und sahen trotzdem toll aus. Allerdings wären höhere Absätze von Vorteil, da ich ziemlich klein war. Generell fühlte ich mich mit höheren Schuhen wohler, ich wusste aber nicht, warum ich das tat. „Setz dich doch!“, forderte Alessandro, der auf einmal vor mir stand und auf ein graues Sofa zeigte, das mit bunten Kissen bedeckt war. Langsam ließ ich mich in die Kissen gleiten und begann Alessandro zu beobachten. Er kramte irgendetwas aus seinem großen Kleiderschrank, der Spiegelschwebetüren hatte, die durch metallene Lamellen in einzelne Segmente unterteilt waren. Mit zwei seiner grauen Samtumhänge schloss er den Schrank. Er blieb kurz stehen, um mich durch den Spiegel mit einem verträumten Blick anzusehen. Er seufzte und lief zu der Kommode neben der Tür, auf der immer noch der Zimmerschlüssel lag. Behutsam legte er die Umhänge auf den Boden und nahm ein Pferdehalter aus der untersten Schublade des weißen Möbelstückes. Schließlich kam er mit den Dingen, die er aus den Schränken gekramt hatte zu mir, half mir wortlos auf und legte einen der Umhänge über meine Schultern. Der war bodenlang, wenn ich ihn trug, doch bei Alessandro brachte er sogar noch seine Knie zum Vorschein. „Warum musste er nur so groß sein?“, fragte ich mich verzweifelt. „Dann können wir doch gehen, oder?“, wollte er wissen. Ich nickte lediglich und ließ mich nach draußen führen. Vögel saßen rund herum in den großen Bäumen und zwitscherten. Vor uns lag ein erdiger Trampelfpfad, der zu einem hölzernen Zaun führte. Was hatte Alessandro vor? War das der richtige Weg zu dem Ort, zu dem er mich schon mal bringen hatte wollen? „Rubin!“, rief er laut, weswegen ich erschrocken zusammenfuhr, „Rubin?“ Ein brauner Hengst trabte zum Zaun. Gab es hier am Internat für jeden Schüler ein Pferd? Irgendetwas raschelte links von mir. Neugierig drehte ich mich dorthin, woher das Geräusch kam. Schnaubend kam meine Rappenstute Black Tear aus dem Gebüsch. Blätter und Zweige hingen in ihrer Mähne und ihrem Schweif fest, ihre Fesseln waren dreckig. Allerdings trug sie noch ihren Sattel und das Zaumzeug, das ich ihr angezogen hatte. Ich ging näher zu ihr hin und zupfte, während ich ihren Hals tätschelte, die Pflanzenteile aus der Mähne. „Was machst du denn hier?“, fragte ich sie. War sie mir etwa die ganze Zeit gefolgt? Ich hatte sie bei Danyel vergessen. Anstatt einer Antwort auf meine Frage sah Black Tear mich mit ihren stechend blauen Augen liebevoll an. Blicke sagten eben mehr als Worte. Verzieh sie mir etwa vollkommen, dass ich nicht mehr an sie gedacht hatte? „Mach dir doch keine Sorgen um die Gefühle deines Pferdes!“, ermahnte ich mich selbst und sah mich nach Alessandro und Rubin um. Wo waren sie denn nun? Suchend sah ich mich um. Black Tear schnaubte wieder einmal, was sich etwas genervt anhörte. „Machte sie sich lustig über mich, weil ich Alessandro schon wieder aus den Augen verloren hatte?“, überlegte ich und kicherte. War ich jetzt völlig durchgeknallt? Dass ich mit meinem Pferd redete, war ja schon bescheuert genug. Sich auch noch mit den Gedanken eines Pferdes befassen, würde als geistesgestört durchgehen und grenzte sogar nahezu an Wahnsinn. Belustigt stieg ich auf den Rücken meiner pechschwarzen Stute und lotste sie vor zum Koppelzaun.