Ungläubig sah Linus der Frau hinterher, doch als sie tatsächlich gehen wollte erwachte er aus seiner Starre. "H-H-Hey!", eilig stolperte er ihr hinterher. "Du kannst mich doch nicht einfach hier zurück lassen! Diese Typen sind immer noch dort draußen!" Wieder taumelte er ein wenig. "Wo willst du überhaupt hin? Dort draußen herrscht das pure Chaos, die werden dich ausknocken ohne mit den Wimpern zu zucken. Es ist doch dämlich da allein raus zu gehen!"

Geradezu empört über diese Gleichgültigkeit plusterte sich der Junge zum Gegenangriff auf, doch seine Haltung sackte kurz darauf wieder zusammen. Er sollte an dieser Stelle am besten dreimal überlegen, was er sagen wollte. Vor den Mauern des Gebäudes herrschte Anarchie. Er hatte noch nie in seinem Leben etwas geklaut, er hatte sich auch noch nie ernsthaft geprügelt bis vor kurzem, aber jetzt stand er allein und ohne jegliche Mittel da. "Vielleicht sollte ich dich noch ein kleines Stück begleiten, du weißt schon, um dich zu besch-" Im letzten Moment fiel Linus wieder ein, mit wem er sprach. "Ähm... Naja, zu zwei gegen einen sind immer im Vorteil, oder nicht?" Er grinste sie schief an und versuchte mit dem Charme zu spielen, der ihm in der Vergangenheit immer von alten Leuten und Müttern nachgesagt wurde. So bedacht waren das wohl Lügen. "Ich war als ich klein war oft Angeln... Hilft das?"

"Haha, sehr witzig. Mal sehen, ob du so etwas immer noch sagst, wenn die Ressourcen langsam knapp werden.", prophezeite Linus. Er hatte genügend Filme gesehen, um zu wissen, dass der Kampf derzeit nur ein kleiner war und auch nur von kleinkriminellen ausgefochten wurde, die den Moment der Anarchie ausnutzen wollten. Bald schon würde sich daran etwas ändern, mit Sicherheit. "Wie gedenkst du denn zu überleben? Oder beschreibt dein Name auch dein Tun?"

"Irgendwann werden die auch kein Essen mehr haben.", schnaubte der Junge. "Irgendwann gibt es nichts mehr zu klauen." Nunja, wenn die Dame glaubte, so naiv durchs Leben wandern zu können, wäre Linus der Letzte, der sie daran hindern würde. Er würde wohl dann wieder den eigenen Weg gehen, bevor sie zum Kannibalismus überging - so wie er es oft in Filmen gesehen hatte. Doch derzeit folgte er Hunter noch straffen Schrittes, weshalb er sich entschied das Thema schnell zu wechseln, bevor die Ältere noch wütend wurde. Frauen waren prinzipiell oft wahnsinnig und Hunter war eine von der Sorte, die er ungern wütend erleben wollte. "Also... Hunter... Ist das dein Vor- oder Nachname, beides oder gar nichts davon?"

Das Grummeln der Frau ließ den Jungen zögern. "Linus... Linus Coldwell." Wieder herrschte Schweigen. Obwohl Linus sich entschlossen hatte, trotz der Zustände, mit einer Fremden mitzugehen, hielt er stets mindestens einen Meter SIcherheitsabstand. Dies waren immerhin apokalyptische Zustände. Die Regierung hatte zu Beginn noch die Bevölkerung gebeten, die Häuser nicht zu verlassen. Nicht zu verstehen war daher, wieso er in einem fremden Haus aufgewacht war. Nun spielte gar nichts mehr eine Rolle, ein Gesetzt oder eine Regierung schien es nicht mehr zu geben. Die STraße, an der sie nun standen, zeigte die drastische Veränderung auf. Scherben, Dreck und Einsamkeit. Mülltonnen, die ausgebrannt herumstanden und scheinbar einst einem Lagerfeuer dienten. Verlotterte Katzen, die sich am Ende der Straße einen Kampf um etwas lieferten, das er aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte. Die Laute sprachen für sich. Dass die Menschen nun auch nicht mehr anders als Tiere handelten war nicht verwunderlich. "Und... hast du auch einen Vornamen?", fragte er schließlich um das Gespräch am Laufen zu halten und sich selbst zu beruhigen. Mit der Erkenntnis wie die Welt nun aussah, war ihm das Herz noch ein Stück tiefer in die Hose gerutscht.

Linus verdrehte die Augen. Eine Kommunikations-Expertin war sie scheinbar auch nicht. Da Hunter scheinbar kein Interesse an einem Gespräch hatte und sich auch keine Mühe gab auf irgend eine Äußerung einzugehen, verhielt sich nun auch der Junge schweigsam bis sie zum stehen kamen. "Wie jetzt "allein"?", fragte Linus unbeholfen, als sie ihn ansah. Was hatte es genutzt ihn mitzunehmen, wenn sie sich nun irgendwo in der Fremde von ihm trennte. "Aber... Das ist einfach nur eine Straße... Ich weiß gar nicht, wo ich bin." Seine Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, dass er einer völlig Fremden in die völlige Fremde gefolgt war. Was wenn es eine Falle war? Ob sie schon zum kanibalismus konvertiert war? Wie lange war er wirklich bewusstlos gewesen? Plötzlich schien ihm nichts mehr sicher. Er zog die Augenbrauen tief zusammen und blickte sich hilflos um. Was nun?

Die Stirnfalten vertieften sich und hätte Linus die Ohren herunter klappen können wie ein bettelnder Hund, hätte er es sicherlich getan. Mit großen Augen und knirschenden Zähnen sah er die Frau an und fuhr sich durchs Haar. "Na dann... Komm gut heim. Es war nett dich kennengelernt zu haben, hoffentlich gehst du nicht so bald drauf." Er hielt ihr die Hand zur Verabschiedung hin, ließ sie aber gleich darauf wieder planlos sinken. Leise stieß er ein wenig Luft aus und tappte einige Schritte mit gesenktem Kopf die Straße entlang, nur um sich dann kraftlos auf dem Bordstein niederzulassen. Wenn man ihn so betrachtete wirkte er nicht wie ein erwachsener Mann sondern eher wie ein ausgesetztes Haustier, welches noch hoffte, dass sein Besitzer vielleicht doch umkehren würde. Noch einmal blickte er sich zu Hunter um, mit diesem verzweifelten Blick, den großen Augen und den zusammengezogenen brauen. Er wusste nicht, was er noch tun sollte.

Ein Schnauben ertönte, dann Schritte. Wieder blickte Linus mit einem traurigen Hundeblick über die Schulter. Sie ließ ihn tatsächlich sitzen, unfassbar. Er hatte wirklich gehofft, sie ließe sich erweichen. Immerhin hatten Frauen doch diesen seltsamen Instinkt, sich um hilflose unbewaffnete Dinge zu kümmern. Nun, da die offenkundig klischeehafte Weiblichkeit bei dieser Frau wohl nie gefruchtet hatte oder unter einem harten Panzer versteckt war, saß er nun alleine. "Vielen Dank auch.", murmelte er leise. Hunters Schritte waren bereits verklungen, als aus der Ferne plötzlich Schritte zurückkehren und eilig in seine Richtung kamen. Erleichtert sprang er auf und drehte sich in die Richtung um, in die auch Hunter verschwunden war. "Ich wusste du würdest zurü-" Die Worte blieben dem Jungen im Hals stecken, als erkannte, dass sich dort eindeutig ein fremder Schatten und nicht die flüchtige Bekannte nähert. "Oh fuck!", fluchte er und begann im nächsten Moment auch schon mit rennen, wobei er zwar einen anderen Weg als seine Begleiterin nahm, aber versuchte möglichst baldig über kleinere Straßen auf ihren Pfad zurückzukehren. "Hunter!", brüllte er panisch, als der gefährlich aussehende Schatten näher kam und er gezwungen war noch schneller zu werden. Seine Stimme war bei dem Schrei eine Oktave höher gerutscht, weshalb er es gleich noch einmal mit einer etwas tieferen Stimme versuchte, um nicht kurzfristig den peinlichen Tod einer verweichlichten Memme zu sterben. Er war ein Mann! Trotzdem wäre es wirklich nicht schlecht, wenn ihm nun jemand zur Hilfe käme. "Hunter, das wäre jetzt echt kein schlechter Zeitpunkt umzudrehen und dem Idioten zu helfen, den du aufgegabelt hast." Der riesige Schatten hinter ihm kam näher. In seiner Panik rann ihm der Schweiß bereits über den ganzen Körper. "Bitte?", fügte er vorsichthalber hinzu, obwohl die Frau bereits meilenweit entfernt sein könnte.