Die Lippen fest aufeinander gepresst, um die schöne Stimme nicht mit ihrem Schluchzen zu unterbrechen, verfolgte April das Handeln ihres Beschützers. Mit jedem seiner Worte wurde ihr leichter ums Herz, doch wurde es deshalb nicht einfacher das Weinen zu beenden. Im Gegenteil - all die Worte, deren Urheber ihr solange entbehrt wurde, schienen sich in ihr Gedächtnis zu brennen und lösten in ihr ein wüstes Gefühlschaos unsortierbarer Natur aus. Die vertraute Stimme, die fremden Augen, die Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft, die Nähe, welche Ferne versprach... Alles traf nun aufeinander. Nun antwortete das Mädchen nichts mehr. Was käme als nächstes?, war die Frage, die zwischen ihnen stand. Für einen Moment wollte April nicht darüber nachdenken, sie wollte keine Antwort suchen und sie wollte auch keine Antwort finden. Diese würde wohl kaum vermögen die Tränen zu mindern. Langsam lehnte sie den Kopf an Arveds Schulter. Nein, sie wollte nicht an seine Augen denken, an die Narben, an die Wunden. Sie wollte nicht daran erinnert werden. Sie schloss die Augen. Sie wollte die schönen Dinge. Seine Nähe, die kribbelnde Wärme, die beruhigende Stimme, das Heben seiner Brust bei jedem Atemzug, der sein Leben bewies. Erstmals war es still. Still um sie herum. Kein Gedanke, der in ihrem Hinterkopf schrie, kein Schluchzen und Winseln, keine Erklärungen, nur der wilde Herzschlag, der durch die Brust zu dem Schlag des anderen Herzen wandern wollte. Langsam und ruhig atmete sie aus, ließ den Körper zittern und schaudern, solange es ruhig war. Ihre Finger strichen über den breiten Rücken Arveds, ganz sanft und vorsichtig, als könnte sie ihm anderen Falls Schmerzen zufügen, aber auch als könnten ihre Hände noch längst nicht begreifen, dass er wirklich vor ihr stand. Er, der tote Körper in ihren Armen vor noch nicht allzu langer Zeit, der Vergessene, der selbst zu oft vergaß, die kalte Miene unter Gideons Befehl, versteckt in einer Zelle. "Es wird kein gutes Ende nehmen...", durchbrach es die Stille, die sie so dringend wahren wollte. Die Gedanken kämpften erneut, wollten sich nicht nieder ringen lassen. "Wenn Gideon das herausfindet... Er wird uns schlimmere Dinge als den Tod antun, denkst du nicht?"

Arved kam nicht umhin dem Schmunzeln auf seinen Lippen Platz zu geben. Ja, wenn Gideon es sehen würde, wäre jeder bisheriger Schmerz kein Vergleich mehr. Wenn er sehen könnte, dass Arved sich erinnerte und April immer noch lieben konnte. Würde dies dann nicht ihr Ende bedeuten? Der Hund schloss die zweifarbigen Augen, machtlos dem größer gewordenen Lächeln gegenüber. War es falsch, dass er bei diesen Worten keinerlei Angst verspürte? Dass sein Herz nicht vor aufkommendem Adrenalin schneller schlug, dass sein Atem nicht stockte. Es war ihm unmöglich etwas anderes als Freude in diesem Augenblick zu verspüren. Wie ein Betrunkener, waren seine Gedanken vernebelt, durch Aprils klaren anblick vor ihm. "Das würde er." antwortete Arved auf den letzten Satz der Rothaarigen. Gefolgt wurden diese knappen Worte von einer erneuten Pause. Ein Zeitraum, in welchem das Gesicht des Mannes immer neutraler wurde. Wie Ferngesteuert drehte er die Haarsträhne zwischen seinen Fingern, als würde ihm diese Tat tief im Inneren beruhigen. "Ich liebe dich, April." murmelte der Schwarzhaarige, die Augen an ihr vorbei in Richtung Tür gerichtet. Erst nach und nach klarten sich die Farben, während er aus seinen Gedanken hervor tauchte. Gedanken, welche er als unnütz betrachtete. "Egal was auch geschieht, ich liebe dich." er wusste den genauen Grund nicht, warum er es ihr nun sagen musste, doch er wollte sicher gehen, dass sie es auch ja nicht außer Acht lassen würde.

Entgleist blickte April ihren Beschützer an, während er sprach. Ihre Augen tasteten sein Gesicht ab und blieben an den Lippen hängen, die ein der Situation entrücktes Lächeln trugen und so schöne Worte sagten. Er lächelte. Es war ihr unmöglich zu verstehen, wieso er lächelte, und dennoch schien dieser Mund auch ihre Lippen bewegen zu wollen, sich dem Benehmen anzuschließen. Wiederwillig stellte April fest, dass nun auch ihr Mundwinkel zuckte als wolle er mit einem Lachen drohen. Wie konnte man in diesem Moment nur Lächeln wollen? Hier unten bei den Jägern gab es lange keinen Grund mehr lachen zu wollen. Das Zucken des Mundwinkels löste einen Schmerz in der Brust des Mädchens aus. Nein, zum Lächeln war ihr nicht zu mute, selbst wenn das seinens Gegenübers zum Anstecken lockte. Nein, es schmerzte brennend und bremste sie. Er hatte so leiden müssen und er würde wieder leiden. Immer und immer wieder. Ob er es überhaupt spüren konnte, was er da tat? Würde es ihn denn nicht ähnlich schmerzen. "Du lächelst...", wies die Schmächtige ihn gedankenverloren hin und lehnte im nächsten Moment ihren Kopf seitlich an seine Brust. "Wieso lächelst du? Ich verstehe es nicht."

Aufmerksam beobachte Arved die Rothaarige ihm gegenüber, bis zu dem Moment, in welchem sie sich gegen seine Brust schmiegte. Ein Funken Reue stach in seine Brust, als er ihre Worte hörte. Es war nicht fair ihr gegenüber, in dieser Situation zu lächeln. Für sie gab es nichts, was es zu belächeln gab, zu viel musste sie erleiden. Und doch verschwand das Heben seiner Mundwinkel nicht. Stattdessen hob der junge Mann eine Hand und strich ihr liebevoll durch die dichten Haare. "Verzeih, wenn dir mein Handeln unangenehm ist." entschuldigte er sich wahrheitsgemäß. "Doch ich bin viel zu glücklich, als das ich es unterdrücken könnte." er sah keinen Sinn dahinter, sie seinem Lächeln betreffend an zu lügen. Warum sollte sie kein Recht darauf besitzen, die Wahrheit zu erfahren. Ihnen blieb doch so wenig Zeit sich richtig berühren zu können. Die freie Hand löste sich nun auch aus ihrer Starre und fuhr mit sanfter Bewegung über den schmalen Rücken von April. Eine Tätigkeit, welche ihm wohl am meisten beruhigen würde. "Endlich kann ich dich wieder berühren, deine Stimme hören, deine Wärme dicht bei mir spüren." wie von selbst hatte er erneut angefangen mit reden, zu erdrückend wäre eine Stille, zu viele Gedanken würden unausgesprochen die Luft erschweren. "Es fühlt sich wie ein Traum an. Wie einer der mich jede Nacht wach gehalten hat." ein Kuss in ihr wohlriechendes Haar folgte. "Genau aus diesem Grund lächle ich."

"Das muss ein schöner Traum gewesen sein.", flüsterte sie berührt von seinen Worten. Nach all der Zeit war es ein Traum gewesen, der ihn bei Verstand gehalten hatte, das Erahnen einer Berührung, die Erinnerung an ein Gefühl. Er hatte sich festgehalten an einer Welt, die sie ihm immer hatte versprechen und eines Tages schenken wollen und einmal mehr ertappte sich April als die Lügnerin und den Ursprung seines Übels. Unweigerlich stellte sie fest, dass sie sich selbst diesen Traum verboten hatte. Nach seinem Tod hatte sie ihn zugelassen, ein paar Mal sogar, doch stand ihr dieses Recht nicht zu. Nicht seine Nähe, nicht sein Geruch, seine Wärme. Bald darauf gab es nur noch den einen immer intensiver werdenden Traum, ein anderer als der von Arved. Der von Scherben zerbohrte Körper Arveds, sein qualvolles Flehen und das Ausstoßen wüster Verfluchungen, sein Hass, seine Wut, sein Leid und schließlich sein Tod - alles durch ihre Hand. Es gab viele Szenarien von seinem Tod, in manchen waren sie beide allein, in anderen war Gideon da, manchmal auch Hodge, selten Liron, aber auch Johann, Soshi und ihre Mutter tauchten auf. Ab und zu gab es Menschen ohne Gesichter oder dunkle Gestalten, namenlose Stimmen, die ihr Dinge zuflüsterten, und auch die Stimme Lys blieb nicht fern. All das spielte sich vor ihren Augen ab, sobald sie sich wagte, diese zu schließen. "Du musst diesen Traum behalten, ja?", erinnerte April ihren Welpen schließlich. "Er wird sonst nie wiederkehren, das will ich nicht. Bitte bewahre ihn gut auf, damit ich auch die berühren, spüren, hören, fühlen kann, bitte.." Sie fasste den Stoff seines Oberteils enger, als könnte er jeden Moment verloren gehen. "Ich will diesen Traum auch haben."

Mit besorgtem Blick sah der Schwarzhaarige auf das Mädchen in seinen Armen hinab. Seine Hände hatten sich auf Höhe ihrer Hüfte wieder zusammen gefunden, sodass seine Arme sie, wie in einen ganz persönlichen Käfig, dicht bei ihm hielten. Mit jedem neuen Wort, wurde das Bild von seiner leidenden April all die Zeit, immer intensiver in seinem Kopf. Und erneut warf er sich vor, das falsche gesagt zu haben. All die Zeit über hatte sie die Schmerzen ertragen müsse, zusammen mit dem Glauben er wäre in ihren Armen gestorben, doch er wusste, dass sie lebte, dass sie in Sicherheit war. Wie konnte er dann so egoistisch sein und glauben, sie könne seine Traum nachvollziehen. Er hatte kein Recht sich mit ihr gleichzustellen. Unbewusst zogen sich seine Arme etwas enger um ihren viel zu schmalen Körper. "Das wirst du..." flüsterte Arved, nur um erneut die erdrückende Stille zu unterbrechen. "Schau." plötzlich löste sich ein Arm von ihrer Seite, fuhr an ihrem Körper und Arm hinauf und umfasste am Ende ihre Hand, welche sein Oberteil fest umklammerte. Sanft versuchte er ihren Griff um den Stoff zu lösen, um ihre Hand anschließend mit seinen Fingern flach zu öffnen und sie gegen seine zu positionieren. "Du kannst den Traum jede Nacht haben. Merk dir einfach wie es sich anfühlt und ruf es dir jederzeit wieder ins Gedächtnis." auch wenn es immer noch ein Lächeln war, so schenkte der Schwarzhaarige nun ein behutsames und weiches Lächeln. "Ich bin nun hier, ich bin dein Traum. Du kannst mich berühren," bei den Worten fuhren seine Finger sanft zwischen dir ihren, sodass sie sich mit ihren verhakten. "Du kannst meine Wärme spüren und meinen Herz schlagen hören. Ein Puls, der nur für dich und durch dich so heftig schlägt." nun hob sich auch seine Linke Hand, sie legte sich vorsichtig unter ihr Kinn, um dieses achtsam zu heben. Sie musste ihn anschauen, sie sollte sehen, dass er hier war und dies auch bleiben würde. Er wollte ihr zeigen, dass der Traum immer wieder zurückkehren würde, sobald sie ihn nur sah oder berührte.
Ganz sanft küsste Arved die vollen Lippen von April, wobei er für diesen Augenblick die Augen schloss. Erst als er den Kopf wieder ein Stück zurück zog, öffnete er sie wieder. "Ich werde den Traum, deinen Anblick, für immer aufbewahren." versprach er ihr. "Doch wird mir dies nicht lange genügen, nicht wenn ich weiß wie es sich anfühlt dich in den Armen zu halten. Also bitte," er machte eine kurze Pause, ehe er weiter sprach. "Bitte lass mir dir zeigen, dass auch du den Traum jederzeit haben kannst. Immerhin bin ich doch endlich wieder bei dir." seine Druck um ihre Hand, welche er immer noch hielt, wurde stärker. Er würde alles versuchen, um ihr die Angst zu nehmen, doch hatte er das Gefühl, dass er während den ganzen Monaten getrennt von ihr, verlernt hatte, wie er sie trösten könne. Als hätte er früher genau gewusst, was er sagen müsste oder wie er zu handeln hatte, dass die Angst ihren Körper nicht länger zittern ließ. Doch nun war sein Kopf leer, dort waren keine guten Sätze zur Beruhigung. Dort war nur die blanke Sorge um April. Dort herrschte seine eigene Angst, in der Form, der unsterblichen Liebe, für das rothaarige Mädchen mit den wunderschönen Augen, vor ihm.

Aprils Blick folgte unruhig seinen Bewegungen. Ihre Augen wanderten aufwärts an den rauen Händen, welche die ihren ergriffen, weiter über den Körper bis zu den Lippen und schließlich den Augen, die Ihr Sicherheit versprachen. Sein ruhiger Griff beherrschte ihre zitternden Hände und plötzlich wurde es um die rothaarige ganz still. Sie blickte ihren Beschützer nur an, während er auf sie einredete mit dieser sanften Stimme, die sie schweigen ließ. April nickte. Sie verstand seine Worte. Hilflos zog sie die Nase hoch, auch wenn sie danach wieder lief. Er hatte recht. Sie verlor den Verstand, dennoch hatte er recht. Während er sich vorbeugte verstärkte sich der Druck ihrer Finger, sie hielten seine, doch dieses Mal wurden sie aktiv. Vorsichtig tasteten sie an der starken Hand entlang, um sich dieses Gefühl zu merken. Die raue Haut, die Wärme, die Form - einfach jedes Detail, welches sie erkennen konnten. Der schwarzhaarige kam näher, Gesicht zu Gesicht. April blickte ihn an. Nicht wie vorher, nicht mit der Angst, nur mit dem verlangen eine Erinnerung an jeden Millimeter zu erstellen. Ihre Lippen berührten sich. Er schloss die Augen, sie nicht. Wieder eine Erinnerung, ein Bild, ein Gefühl. Nein, viele Gefühle. Darunter lag auch die verzweifelt lechzende Sehnsucht, die sie längst zerfressen hatte. Fasziniert betrachtete April ihren Beschützer. Sie zog die Nase hoch. Sie bekam keine Luft. Trotzdem stahl sich nun ein Lächeln auf das rote von Tränen überströmte Gesicht. Für eine winzige Sekunde konnte April den Kuss erwidern, doch er zog bereits den Kopf weg, da sie zu langsam war. Sie lächelte unter Tränen, während ihre Augen den Moment filmten und sich jedes wunderschöne Wort in ihr Gedächtnis einbrannte. Ihre freie Hand schloss sich unbeobachtet um das verhakte Paar Hände. Endlich konnte sie seinem Blick standhalten und in die bunten verwirrenden Augen blicken. Wenn sie nun genauer hinsah, so erinnerte keines der Augen mehr an den Feind, viel mehr funkelte etwas warmes vertrautes in ihnen. Etwas, das sie bei Gideon und Hodge nie hatte erblicken können. Ihre Lippen öffneten sich, doch kein Wort entfloh ihnen, da das Mädchen sich nicht einem einzigen Wort entsinnen konnte. Langsam senkte es den Blick. Wieder schniefte April. Ihre Lippen blieben stumm und näherten sich stattdessen seiner umklammerten Hand, die sie schließlich zaghaft küsste. Sie blieb länger an dieser Stelle bevor ihre Augen suchend wieder die seinen fanden, noch immer das zurückhaltende beruhigte Lächeln im Gesicht. "Ich werde nie wieder von etwas anderem träumen wollen...", murmelte sie schließlich gedankenlos.

Mit liebevollem Blick verfolgte Arved die Taten von April. Als würde er sie zum ersten Mal sehen, prägte er sich jede Regung, jede Faser ihres Gesichtes ein, gleichzeitig, als würde er sie jeden Augenblick wieder verlieren. Doch bei diesem handeln wurde er keineswegs von Furcht vor diesem Gedanken erfasst, zu sehr war sein Kopf durch ihr Lächeln betäubt. Sie benötigte keine Worte, keine Aufforderung, nur ihr Lächeln allein und er würde ihr bis ans Ende der Welt folgen. Sanft hatte sich seine zweite Hand an ihre Gesichtsrand eine Haarsträhne verfolgt, obgleich, sie gestört hatte oder nicht. Zu groß war das Verlangen danach gewesen sie zu berühren, ihre Wärme zu fühlen. "Du musst auch von nichts anderem träumen." erneut lehnte er sich zu ihr, wenn auch sin Kopf sich kaum senkte. So küsste er sie dieses Mal auf die Stirn, den Atem dabei unbewusst angehalten. "Du kannst nur noch von mir träumen. Sobald du an mich denkst, werde ich zu dir kommen." erinnerte er sie und sich selbst an ein längst ausgesprochenes Versprechen. "Ich werde immer bei dir sein." seine Lippen streiften ihre Haut, als er sprach, ehe er abschließend noch einen Kuss auf die gleiche Stelle ihrer Stirn platzierte. "Denn ich liebe dich." mit dem wieder gerade ausrichten seines Oberkörpers, legte sich nun auch seine linke Hand um ihre Hände. Behutsam führte er ihre Hände zu einer Brust und legte sie ohne Zwang auf seine Brust, seine bettete er dabei über ihre. Unter ihren Händen schlug nun das Herz eines verliebten Hundes. "Spürst du es?" stellte er eine überflüssige Frage, welche nur ein weiterer Beweis war, dass er die Stille um jeden preis von ihrem Wiedersehen fern halten wollte. "Es schlägt allein für dich, und das wird es immerzu. Merk es dir, sodass du dich jederzeit daran zurück erinnern kannst." erneut lächelte der Hund liebevoll. "Dein Herzschlag war stets ein Teil meines Traumes."

Langsam wanderte der Blick des Mädchens ab vom Anblick seines Beschützers als dieser sich wieder näherte. Es schloss die Augen und besann sich auf jene so heiß brennende Stellen, an denen sich ihre Körper berührten. Er hatte recht, sie würden sich nun wieder sehen können. Träume und Realität könnten einmal mehr verschmelzen als getrennt zu bleiben. Endlich war die Mauer gefallen und das Band erneuert. "Ich liebe dich auch.", flüsterte April. Es war nicht ihr Plan gewesen, so leise zu sprechen, doch war ihre Stimme so heiser, dass sie anderen falls wohl nur hätte schreien können. "Endlich bist du hier... Ich liebe dich so sehr." Während sie diese Worte aussprach, begann ihre Unterlippe erneut gefährlich zu zittern, weshalb sie schwieg. Stattdessen hoben sich ihre Lider und die hellen grünen Augen tasteten sich an seinem Körper entlang zu den verschlungenen Händen. Unter den empfindlichen Fingerkuppen pulsierte lautstark sein Herz. Sie konnte es spüren, ihr Herz schlug im selben Takt. Behutsam bewegte sie die Finger. Nicht zu stark, nur ein vorsichtiges Streifen, ein liebevolles streicheln seines Körpers ausgehend von ihren Fingerspitzen. Im halbdunkeln erkannte die rothaarige die Hände Arveds. Sie waren anders. Nicht gepflegt oder von Handschuhen beschützt. Sie waren zerschlissen und rau, die Haut war aufgeschlissen und seine Fingernägel trugen dunkle Ränder. Ihre hingegen waren sauber, seitdem Liron sich um sie kümmerte. Ein Stich, der ihr Herz kurz stoppte und dann den Takt Arveds überholen ließ. Er war alleine. "Ich liebe dich so sehr.", wiederholte sie abermals, als wolle sie damit den hässlichen Gedanken verdrängen wollen. Sie hatte doch gerade erst die Tränen bezwingen können. Ihre Finger wurden unruhig und sie kniff die Augen zusammen. Langsam glitten die Hände Arved Oberkörper hinab, weg von seinem Herz. sie wiesen seine Finger ab bevor sie kraftlos neben ihren Körper fielen. Stattdessen neigte sich nun das dünne Mädchen vor und lehnte ihr Ohr an seine Brust, um seinem Herz zu lauschen und den Schmerz zu vergessen.

Erst war Arved unschlüssig gewesen, wie er nun handeln solle, zu besorgt hatte das Abweisen seiner Hände durch ihre ihn gemacht. Doch nun sah er an seinen eigenen Körper hinab, auf den roten Schopf, welcher sich gegen ihn lehnte und seinem Herzschlag zuhörte. Ob sie die Geschichte, die er zu erzählen hatte, verstehen würde? Es fühlte sich an, als würde Arved zu oft versuchen sie April zu erzählen, ihr jede Minute davon zu schildern. Doch jedes Mal ließ sie einen fahlen Geschmack zurück, ein Geschmack aus dem Anblick von ihr und dem Wissen, was für Gedanken er in ihr damit hervorrufen würde. Vielleicht konnte sein Herz es ihr dann besser erzählen. Die Geschichte seiner Liebe, die er niemals in Worte fassen konnte und nie werden wird. Als sich April gegen ihn gelehnt hatte, waren seine Hände langsam wieder nach unten gesunken, doch waren sie nie dort angekommen, wo sie hingehörten. Zu stark war das Verlangen gewesen April festzuhalten, ihr das Gefühl von Sicherheit zu geben, sodass seine Arme seinem Wunsch nachgekommen waren und sie wieder fest in sich ein schlossen. Mit jeder verstreichenden Minute klang es, als würden ihre Herzen lauter schlagen und den viel zu kleinen Raum ausfüllen. Genau konnte es der Schwarzhaarige nicht beantworten, doch in diesem Augenblick ließ er die Stille zwischen ihren Worten zu. Zu laut erschien ihm das Pulsieren der Herzen. Es war eine Stille, die bewies das sie beide lebten und gerade für diesen Beweis war Arved dieser Ruhe unendlich dankbar.

~
"Hatschi!", ein leises Niesen durchbrach die Stille, ein Seufzen, dann ein Schniefen. April lag bäuchlings auf dem dunklen Sofa im Wohnzimmer, die Arme auf der Armlehne verschränkt und den roten Schopf auf diesen gebettet. Erst vor kurzer Zeit hatte sie feststellen können, dass sie so direkt aus dem großen Fenster hinaus auf die anderen Häuser und Straßen blicken konnte. Nun lag sie oft hier, meist wenn am Morgen die Dämmerung einsetzte und alle Häuserfassaden in ein weiches warmes Licht hüllte, so wie auch an diesem Tag. Sie öffnete dann vorher immer die Fenster und lauschte dem Wind und den Vögeln, die zu dieser Zeit mit ihr wach wurden, während ein eisiges Lüftchen in die Wohnung einzog und diese in eine Gefriertruhe verwandelte. Trotzdem es morgens kalt war, trug April nur ein schwarzes T-Shirt und eine Jogginghose, die nackten Füße baumelten in der frischen Luft als sei es der heißeste Tag des Jahres.
Es kam inzwischen nicht mehr selten vor, dass Liron sie so vorfand. Sobald er wach wäre würde sie ihn drängen zurück ins Hauptquartier zu fahren, wo sie nun auch die ein oder andere Nacht verbrachte. An solchen Abenden schlich sie durch die dunklen kalten Flure, in der Hoffnung auf Arved zu treffen, die meiste Zeit jedoch war es zu gefährlich. Zu selten verließ Gideon sein Quartier.
Überhaupt hatte sich in den wenigen Wochen seit ihrer Begegnung mit Arved einiges verändert und dies blieb auch nicht unbemerkt, obwohl sie es zu Anfang tatsächlich versucht hatte zu vertuschen. Die Rothaarige war ganz tatendurstig, suchte dauernd Ausflüchte, um im Hauptquartier zu bleiben, sie trainierte noch härter als zuvor, schlief immer weniger und war oft tief in Gedanken versunken. Es schien beinahe als hätte sie nun allen Bezug zur Realität verloren. Stattdessen war sie unaufmerksam, redete kaum mehr über die vielen Dinge, an die sie dachte. Auch schlief sie nun abgewandt von Liron, allerdings verweigerte sie auch, ohne seine Anwesenheit überhaupt zu schlafen. Morgens mit dem ersten Sonnenstrahl schlich sie sich dann jedoch aus dem Zimmer und kehrte auf die Couch zurück. Obwohl April geradezu danach zehrte Liron alles zu gestehen und sie sich sicher war, dass er es spürte, verblieb sie schweigend.
Nachdenklich rieb sie sich mit dem Arm über die Nase, den Blick unverwandt nach vorne gerichtet. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie ganz genau spüren, wie das Band sie versuchte zurück zu Arved zu ziehen, dennoch nutzte sie die Verbindung kaum, um mit Arved zu kommunizieren. Es wäre sicherlich gefährlich, es zu sehr auszureizen. Ihr reichte es in diesem Moment zu wissen, dass er wohlauf war und sie begleitete, wohin sie auch ging. Es müsste in diesem Moment ausreichen. Insgeheim schmiedete sie jeden Morgen auf dem Sofa einen neuen Plan, ihn zu befreien, doch wusste sie, dass dies unmöglich war. Der Erleichterung, die sie nach der Begegnung mit Arved verspürt hatte, war nur kurz darauf einem schweren schmerzlichen Kummer gewichen, welcher sie nun nicht mehr allein ließ. Und egal, wie verklärt sein Blick nun aussah, wie sinnlos jede seiner Versuche schien, das Mädchen wirkte immerzu unglücklich, geplagt von einem Leid, welches es nicht bezwingen konnte.

Heimlich und völlig tonlos, streckten sich die dünnen Finger der Kälte nach Liron aus. Sie umfassten erst seine Gliedmaßen, bis sie immer mehr über seine Haut wanderten. Mit einem Schnaufen packte der Schlafende die Decke und zog sie sich bis zur Stirn, auch wenn er so den Schutz der Decke nun seinen Füßen verweigerte. Mit einem weiteren mürrischen Ton schlug er sie wieder zurück und setzte sich auf. Diese Weck-Methode blieb ihn weiterhin verhasst und doch hatte er sich nie beschwert. Ihm war es auf dieser weise lieber, als auf einer vielleicht unangenehmeren. Auch wenn die Kälte ihm immer noch in den Knochen saß. Lautlos gähnend schob er sich von der Matratze, bis seine nackten Füße auf dem kalten Boden standen. Er trug ebenfalls eine lange graue Sporthose, kombiniert mit einem leicht zerknitterten, weißen T-shirt. Dies waren auch die einzigen Kleidungsstücke aus seinem Schrank, welche nicht die Farbe schwarz trugen. Vielleicht noch zwei weitere Shirt, aber dann war die Grenze auch erreicht. Zu selten brauchte er eine andere Farbe, als Schwarz. Liron ließ den Kopf knacken, als er durch die Tür ins Wohnzimmer trat, wo er den gewohnten Anblick erhielt. "Morgen." murmelte er, während sich ein weiteres Gähnen in die letzten Silben des Wortes geschoben hatte. In der Zeit, in welcher er sich die Tränen aus den Augen wischte, welche durch das Gähnen entstanden waren, lief er in die Küche, den Durst auf Kaffee im Magen. Sie verfolgten immer die gleiche Routine am Morgen, auch wenn sich in den letzten Tagen eben diese verschoben hatte, so fanden sie schnell wieder zu einem gewohnten Trott. Eine Angewohnheit die ihm wesentlich besser gefiel, als ihr Leben zuvor. Kaum begann die Kaffeemaschine mit brodeln, steckte Liron seinen Kopf durch die Tür. "Hunger?" rief er April zu. Wie jeden Morgen. Und wie jeden anderen Morgen, kaute er dabei auf seinem ersten Würfel Zucker herum.

Bereits die erste Bewegung Lirons ließ April aufhorchen, ohne dass sie zur Tür des Schlafzimmers blicken musste. Sie nahm ihn ein weiteres Mal den wohlverdienten Schlaf. "Morgen.", entgegnete sie gedankenverloren dem müden Gruß ihres Freundes. "Hab ich dich geweckt?" Kurz darauf ertönte das vertraute Geräusch der Kaffeemaschine, es begann ein weiterer Tag im selben Trott. Die Rothaarige zwang sich nun, den Blick vom Fenster zu lösen und sich stattdessen Liron zu widmen. Langsam setzte sie sich auf und fuhr sich durch das wüste rote Haar, welches ihr ins Gesicht gefallen war. Ob sie Hunger hatte? "Nicht wirklich." Es war die selbe Antwort wie jeden Morgen. Die selbe Antwort, seit sie das Institut verlassen hatte. Inzwischen musste sie nicht einmal darüber nachdenken. Langsam lehnte sie den Kopf zur Seite, um den Nacken zu dehnen. Knackte es, so fuhr sie mit der anderen Seite fort. Nachdem es auf beiden Seiten einmal geknackt hatte, seufzte sie leicht und sah gespannt zu Liron, die Hände brav im Schoß gefaltet. Ihr Blick sprach Bände. Es war dieser neue Blick, ein aufgeregtes unruhiges Funkeln in den grünen Augen. Es war ein Blick, der von stetiger Unruhe zeugte und ihrem Wunsch so schnell wie möglich aufbrechen zu wollen. Und obwohl Liron inzwischen längst wissen müsste, was dieser Ausdruck in ihren Augen bedeutete, versuchte sich dennoch möglich unschuldig auf ihr Vorhaben hinzuweisen. "Wann fährst du heute zum Hauptquartier?"

Völlig eingenommen sammelte Liron aus dem kleinen Kühlschrank alles zusammen, auf was sein Magen in der Frühe ansprang. Allerdings entgangen ihm dabei nicht die Worte, welche von der Couch her zu ihm her drangen, wenn auch dumpf, dadurch dass sein Kopf im Kühlschrank gesteckt hatte. Auch wenn es nicht von Nöten war, so überlegte er wann er wohl los machen wollte. Im Grunde zog ihn nichts so schnell ins Hauptquartier. Es stand nichts an, es wurde nichts von ihm verlangt und doch verbrachte er seit einigen Tagen mehr Zeit dort, als hier in der Wohnung. Gut, gerade heute hatte Gideon nach ihm rufen lassen, doch auch dies lag noch hin, warum also hetzen? Er wusste warum, ohne die Frage überhaupt gedacht zu haben. Ein Blick auf seine Couch wäre Beweis genug, warum er sich beeilte morgens fertig zu werden. "Gib mir wenigstens eine Tasse zeit." rief Liron als Antwort zu April. Wie auf Kommando legte sich der Schalter der Kaffeemaschine um, was bedeutete, dass die fertig war. "Du kannst dich in der Zeit ja schon fertig machen." fügte der Dunkelhaarige hinzu, während sich die Tasse in seiner Hand langsam mit der dunklen Flüssigkeit füllte, welche ihn bei Kräften hielt. Denn ein Blick auf seine Beute aus seinem eigenen Kühlschrank, ließ seine Körperspannung in sich zusammen schrumpfen. Er konnte es nicht darauf schieben, dass er zwei Mägen füllen musste, denn das wäre gelogen. April aß nichts, sodass die Leere seines Kühlschrank auf seine Kappe ging. Eine Packung mit zwei fertig vorbereiteten Sandwiches, ein Joghurt, ein abgepacktes Brötchen und zwei Äpfel. Mehr hatte er nicht zu Verfügung, denn mehr besaß er nicht mehr. Noch während er die Tasse bis zur Hälfte austrank, entschied er auf dem Rückweg unbedingt bei einen Supermarkt vorbei zu schauen. Denn auch wenn er von den Dingen vor ihm satt werden könnte, so würde er sie nicht alle essen können. Auch wenn es vielleicht verrückt war, doch trug er jeden Tag bei sich etwas kleines zu essen mit sich. Sei es etwas Obst oder eine Riegel oder was auch immer, sollte April je wieder zu essen beginnen, so musste er etwas bei sich haben. "Ich hab noch einen Apfel, möchtest du einen?" rief Liron nach einer kurzen Pause nach draußen.

April öffnete direkt den Mund, um dankend abzulehnen, doch sie brachte diese Antwort nicht ein weiteres Mal über die Lippen. Er versuchte es jedes Mal aufs neue und sie musste ihn jedes Mal enttäuschen. Ihr Blick wurde traurig, zum Glück konnte er es von der Küche aus nicht sehen. "Vielleicht nachher." Es war ein dummes Vertrösten, eine nicht viel klarere Antwort als zuvor, aber es war kein Nein. "Trink du ruhig in Ruhe und frühstücke etwas. Ich bin schon fertig, wir können jederzeit starten.", rief sie schließlich zurück und beugte sich ein wenig vor, um vom Boden nun die zerknüllten dunklen Socken aufzuheben. Ein flaches Ächzen entfuhr ihr. Vielleicht hatte sie es die letzten Tage doch ein wenig übertrieben, denn nun spürte sie einen stechenden Schmerz, der durch ihren gesamten Körper fuhr. Es erleichterte sie nur, dass es nicht länger Arveds Schmerz war, den sie spüren musste. Beschützen konnte sie ihn nicht, das wusste sie. Jedoch arbeitete April hart und machte enorme Fortschritte, trotzdem reichte es einfach nicht. Tag um Tag verging und sie konnte ihn weder sehen, noch retten, noch traute sie sich nach ihm zu rufen. Nun wurde sie nach und nach unruhiger. Sie wollte ihn sehen, seine Wärme spüren, seiner Stimme lauschen, sie wollte wieder in seinen Armen liegen. Selbst eine kurze Berührung nur... Sofort verdrängte die Rothaarige die schweren Gedanken, ehe sie ihn vielleicht noch rief. Es wäre nicht gut, das Band zu nutzen. Vielleicht würde es sie verraten. Er würde noch mehr leiden müssen, das durfte sie nicht zulassen. Eilig zog sie die Socken über und drückte sich schwungvoll von dem weichen Polster hoch, als würde sie die schmerzenden Glieder gar nicht spüren und stellte sich an das Fenster, um dieses zu schließen. Nachdenklich blickte sie über die Straße. "Wenn wir bald aufbrechen, kommen wir sicher gut durch. Um die Zeit ist kaum jemand unterwegs.."